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Der Medizinmann

Es ist am späten Nachmittag, ich befinde mich im hinteren Raum meines Büros, meine Praktikantin habe ich nach vorne geschickt damit sie ihre Aufgaben an meinem PC erledigt. Nachdem ich mir vor zwei oder drei Stunden doch noch eine weitere Bahn dieser bestialischen Speedpaste in meine wunden Nasenlöcher gezogen habe, möchte ich hier hinten meine Ruhe haben. Gerade noch habe ich einige neue Haken an die Wand geschraubt und somit eine neue Befestigung für den Vorhang meines Lagers montiert. Jetzt sitze ich am Schreibtisch, halte die Arme verschränkt vor der Brust und starre durch das geöffnete Fenster hinaus in den Hof.

Die Sonne scheint, das Wetter ist einfach herrlich denn es ist nicht zu warm, nur in meinem Kopf herrscht Durcheinander und geistige Stille zugleich. Immer wieder schrecke ich hoch da ich Stimmen oder Geräusche aus allen möglichen Winkeln wahr nehme. Mein hektischer Blick wandert im Hof von den Küchenfenstern des Restaurants nebenan, über die davor stehenden Mülltonnen weiter hinüber zu den Treppenstufen, welche zum Hintereingang des Restaurants führen.

Neben den Treppen lehnt ein Besen am Geländer, dessen Anblick mich seltsamer Weise nicht los lässt. Jedes Mal wenn ich versuche weg zu schauen habe ich das Gefühl, dass sich der Besen bewegen würde. Ich schaue genauer hin und mir fällt auf, dass der Stiel des Besens am oberen Ende merkwürdig geformt ist. Jäh scheint dieser Teil des Stiels immer breiter und ovaler zu werden, allmählich bin ich mir sicher die Konturen eines langen, schmalen Kopfes zu erkennen. Es ist mir ein Rätsel, aber der Besen hat nun tatsächlich ein menschliches Gesicht, welches mehr als nur riesig auf dem dünnen Holzschaft wirkt.

Dann bemerke ich, dass er auch Arme besitzt welche er verschränkt vor seinem Körper hält, während sein Blick immer wieder nach rechts wandert wie wenn dort etwas zu sehen wäre und er meine Aufmerksamkeit darauf lenken wollte. Dieser Anblick fasziniert derartig, dass ich mich auf das Fensterbrett setze, mir eine Zigarette anzünde und mit dem menschlichen Besen zu reden beginne. Ich erkläre ihm, dass ich schon seit zwei Tagen ziemlich merkwürdige, unerklärliche Dinge erlebe und nach anfänglicher Angst mittlerweile diese optischen sowie geistigen Schauspiele als sehr spannend empfinde.

„Ich hätte dich fast nicht erkannt, du hast die ganze Zeit ausgesehen wie ein normaler Besen“, spreche ich zu ihm und meine dann weiter: „Aber du lebst tatsächlich auch wenn du ziemlich abgemagert aussiehst.“

Eine Antwort erhalte ich nicht, stattdessen blickt das Gesicht immer wieder nach rechts, bevor es mich aufs Neue aus großen Augen anstarrt und mir irgendetwas mitteilen will.

Schließlich wandert auch mein Blick in diese Richtung und ich blicke auf die Wand aus Ziegelsteinen welche unseren Innenhof von dem des Nachbarhauses abgrenzt. Einige Zweige des Busches vom Nachbarsgrün hängen über die Mauer und wiegen sich sanft in dem leicht wehenden Wind. Schräg gegenüber an der Hauswand lehnt plötzlich ein dunkelhäutiger Mann, welcher mehr als spärlich bekleidet ist, denn er hält wirklich nur das Nötigste bedeckt. Er trägt Riemenschuhe und seine wenige Kleidung besteht aus braunem Leder. Seine Erscheinung erinnert mich an den Medizinmann eines Indianerstammes, schulterlange Haare, ein Stirnband, ein bemaltes von Falten durchforstet Gesicht und typischen Indianerschmuck um Hals und Handgelenke. Zugleich umgibt ihn etwas Magisches, er strahlt absolute Ruhe und Gelassenheit aus.

Mal ebenso aus dem Nichts erschienen steht er da nun also, er nickt mir zu wie wenn er mich kennen würde. Ich schaue hinauf in den Himmel, bemerke den angenehmen Wind welcher mir ins Gesicht bläst, den Duft der frischen Luft, den in blau-rot-gelb leuchtenden Himmel und als ich zurück in den Hof blicke fallen mir die extrem grün leuchtenden Blätter des Strauches hinter der Mauer auf. Alles erstrahlt aus heiterem Himmel in einer unbeschreiblich intensiven Farbenpracht, als sei ich im Paradies auf Erden.

Dann nehme ich eine wunderbare, sanfte Melodie wahr, sie hat etwas meditatives an sich. Erstaunt blicke ich zurück zu dem Medizinmann, welcher nun auf einer übergroßen, kunstvoll geschnitzten Holzflöte diese wunderbaren Töne spielt. Diese Person fasziniert mich, woher kommt sie nur? Auf jeden Fall steht fest, sie ist nur wegen meiner Wenigkeit hier, das spüre ich einfach.

Ich schließe die Augen für einen Augenblick, genieße diese eindrucksvolle Musik und denke nach. Wie ich die Augen wieder öffne bemerke ich wie sich die Zweige dieses einen Strauches, welcher über die Ziegelsteinmauer wuchert, immer mehr bewegen. Sie bewegen sich auf und ab, gleichmäßig wie die Flügel eines riesigen Adlers. Die Situation gleicht einer Schlangenbeschwörung, denn die Zweige folgen dem Takt der Melodie und den Kopfbewegungen des Medizinmannes.

Doch das Bild wird immer unglaublicher, denn mit einem Mal bewegen sich auch die einzelnen Blätter, sie klappen in der Mitte zusammen und dann wieder auf. Zu und auf, zu und auf… und dann beginnen sie abzuheben, sie schweben wie von Geisterhand, steigen hinauf in die Luft und verwandeln sich vor meinen Augen in grüne Schmetterlinge.

Diese tanzen im Wind und mir wird bewusst, dass ich noch nie in meinem Leben so etwas Schönes gesehen habe. Unwillkürlich rollen mir die Tränen über die Wangen und ich denke darüber nach ob ich gerade am sterben bin. Der jahrelange Kampf mit meiner Drogensucht wird mir bewusst, welchen ich mittlerweile als verloren hinnehme. Und obwohl ich weder an Himmel noch Hölle glaube, überlege ich ob mich der Medizinmann abholen kommt, hinüber in das Reich der Toten. Es wundert mich nicht, dass ich in jenem Moment keine Angst vor dem Tod verspüre, zu schön erscheint mir dieser Augenblick und irgendwie wünsche ich mir einfach dass alles endlich ein Ende nimmt.

Erstaunt über das was hier geschieht, schaue ich den Medizinmann an während mich dieser anlächelt, mir zustimmend zunickt wie wenn er mir etwas mitteilen möchte. Dann schauen seine Augen, an meinem Kopf vorbei, in mein Büro und ich verstehe seine Andeutung, dass ich mich bitte umschauen solle. Ich drehe mich also um und blicke, auf dem Fensterbrett sitzend, in diesen kleinen Raum…komisch ich sehe nichts…