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Zeit zu sterben

Seit mindestens einer Stunde sitze ich nun schon an meinem Schreibtisch, rauche eine Zigarette nach der anderen, starre auf den Monitor, lausche den Songtexten von Ich & Ich und heule immer wieder wie ein kleines Kind. Hin und wieder rede ich mit den in meinen Halluzinationen anwesenden Gesichtern auf Gegenständen.

Ich spüre einen unendlichen Druck endlich eine dicke Line ziehen zu können, es ist schier unerträglich denn ich merke dass ich runterkomme, meine Konzentration lässt rapide nach. Meine Gedanken kreisen um die Verfassung in welcher ich mich seit Monaten befinde, dieses ständige auf und ab, drauf sein, schlafen, drauf sein, schlafen und immer wieder das gleiche Prozedere. Doch endlich scheine ich mich an dem Punkt zu befinden, welchen ich seit Jahren herbei gesehnt habe. Endlich haben Andere beschlossen mein Schicksal in die Hände zu nehmen, um mich an einen Ort zu bringen an welchem ich Ruhe und Abstand zu meinem bisherigen Leben finde. Dies zumindest bilde ich mir momentan ein.

Wie ich da so sitze, meine Ellenbogen auf die Schreibtischplatte gestützt und den Kopf in die Hände gelegt, vernehme ich aus dem Nebenraum mit einem Male ein flüstern: „Seine rechte Gehirnhälfte ist offen, durch den übermäßigen Drogenkonsum. Es ist zu spät.“ Mein Herz beginnt zu rasen, der Herzschlag pocht laut in meinen Ohren. Mir wird schwindlig und warm, ich schwitze schlagartig aus allen Poren. Da hinten wird eindeutig über mich geredet. Ich fasse mir an die Stirn, sie fühlt sich warm an. Dann greife ich mir an die Ohren und an die Nase, schaue anschließend prüfend auf meine Handfläche ob sich Blut daran befindet. Nichts.

Wie meinen die das mit – Gehirnhälfte offen und es ist zu spät – meinen sie das genauso wie sie es sagen. Todesängste rasen durch mein Gehirn, meine Kopfhaut kribbelt wie wenn tausende von Ameisen darüber laufen würden und er wird immer heißer. Ich kann nicht mehr sitzen, stehe also auf und gehe langsam sowie ängstlich in den hinteren Raum. Dort angekommen schauen mich sämtliche Gegenstände wie Drucker, Regal, Papierkorb, Monitor und die restlichen Einrichtungsdetails an. Ganz schön voll die Bude hier, denke ich mir und gehe auf direktem Weg weiter zum Bad. Langsam schließe ich die Türe, wende mich dem kleinen Regal neben dem WC zu und baue mir aus einem ganzen Gramm still und leise einige Lines Speedpaste. Diese ziehe ich mir nacheinander rein, obwohl meine Nase so dicht ist dass ich kaum noch Luft holen kann.

Als ich alle meine Utensilien wieder in meinen Taschen verstaut habe öffne ich die Tür, drehe mich weiter zum Waschbecken und wasche mir meine Hände sowie mein Gesicht. Als ich in den Spiegel schaue sehe ich in diesem meine Verlobte wie sie im Raum nebenan auf einem Stuhl vor dem Praktikantenschreibtisch sitzt und ihr Oberkörper auf der Tischplatte ruht. Erschrocken drehe ich mich um, doch an der Stelle wo gerade eben meine Verlobte lag, liegt nun meine grünbraune Sommerjacke. Ungläubig schaue ich zurück in den Spiegel und sehe in dessen Bild erneut die Figur meiner auf dem Tisch ruhenden Lebensgefährtin. Sie schaut zu mir, ihr rollen Tränen über das Gesicht, sie schaut völlig hilflos, trauernd und hoffnungslos aus.

Ich drehe mich zu ihr um und obwohl ich nun wieder meine Jacke anstatt meiner Partnerin sehe, meine ich zu ihr: „Hey Schatz, mach dir keine Sorgen. Es geht mir gut, wirklich.“ Sie antwortet nicht, verharrt weiter in dieser ruhenden, liegenden Position. Ich verlasse das Badezimmer und nehme neben meinem Schatz auf dem Tisch platz. Wie ich durch den Raum schaue, bemerke ich dass alle Augen der Gegenstände auf mich gerichtet sind. Trotz meiner Lebensangst fasziniert es mich mittlerweile was ich hier sehe, ich empfinde es als interessant was mir mein Gehirn hier vor Augen führt. Ich denke dass es sich bei den Gegenständen in Wirklichkeit um Menschen aus Fleisch und Blut handelt. Dessen bin ich mir sogar zu hundert Prozent sicher.

Plötzlich stellt meine Frau eine Frage in den Raum: „Wird er jemals wieder normal werden oder was passiert jetzt mit ihm?“ Sie redet so als wäre ich gar nicht anwesend, irgendwie scheint sie meine Gegenwart überhaupt nicht zu spüren. Es scheint als scheinen alle gleichzeitig zu antworten: „Er hat zuviel konsumiert, was zu einer Hirnblutung geführt hat. Die offene Gehirnhälfte sorgt für eine falsche Wahrnehmung, sodass er Menschen als Gegenstände wahrnimmt. Leider ist dies ein Vorgang der unumkehrbar ist. Er hat nicht mehr lange zu Leben, er wird jeden Moment sterben. Es tut uns leid.“

Die Worte klingen in meinen Ohren so unwirklich, sie scheinen sich ähnlich einem Echo immer wieder zu wiederholen. Ich fühle mich mit einem Mal so benommen, fast wie betrunken. Es dreht in meinem Kopf und ich erhebe meinen plötzlich mehrere Zentner schwerer wirkenden Körper vom Tisch. Schweren, schleichenden Schrittes begebe ich mich wieder vor ins Büro. Ich greife nach der Sparbüchse welche auf dem Tisch steht, ziehe den Gummiverschluss auf und schütte den Inhalt auf die Schreibtischplatte. Der Gesamtbetrag des Kleingeldes reicht auf den Cent genau für eine letzte Schachtel Zigaretten. Mit dem Kleingeld in der Tasche stehe ich nun da und überlege wie ich nun zur Tankstelle komme. Zum laufen sowie erst recht zum Fahrradfahren fühle ich mich jetzt absolut nicht in der Verfassung.

„Ey ich brauche jetzt unbedingt Kippen. Ich muss mal raus hier, kann mir bitte mal jemand die Türe aufschließen.“ Ich habe mal wieder keine Ahnung wo der Schlüssel abgeblieben ist, wahrscheinlich haben die Typen hier mit dessen verschwinden etwas zu tun. Die wollen mich nicht mehr gehen lassen. Nervös wippe ich auf meinen Fußsohlen auf und ab, starre dabei erwartungsvoll nach hinten in den Raum…

…und dann passiert etwas mit mir. Um mich herum wird es schlagartig warm, dann steigt diese Wärme hinunter in meine Füße und fließt von dort aus langsam die Beine hinauf. Es fühlt sich an als würden meine Beine taub werden. Die Wärme steigt langsam weiter nach oben durch meinen Oberkörper, von dort weiter in die Arme und schließlich weiter in den Kopf. Dort scheint sie sich zu bündeln, denn mein Kopf wird von Sekunde zu Sekunde heißer. Es fühlt sich an als bekäme ich Fieber. Auf meiner Stirn bildet sich Schweiß. Dann beginnen meine Beine zu kribbeln und auch dieses Gefühl durchströmt dann weiter den gesamten Körper bis es sich im Kopf sammeln tut. Irgendetwas sagt mir dass es soweit ist. Es ist an der Zeit zu sterben…

…verdammt noch mal ich sterbe, mein Leben geht zu Ende. Ich kann nicht mehr denken, ich spüre einfach nur noch die Zeichen des Todes in meinem Körper. Alles wirkt so weit weg und scheint sich im plötzlich aufziehenden Nebel zu verlieren. Mein Körper fühlt sich schwer an, meine Füße scheinen in den Boden zu sinken. Dann fühle ich dass unbeschreibliche Gefühl von Liebe und Sehnsucht nach meiner Frau. Ich möchte nach ihr rufen, ihr sagen wie sehr ich sie liebe. Doch ich bekomme kein Wort heraus. Automatisch begibt sich mein Körper in Richtung des Nebenraumes wo ich immer noch meine Frau vermute. Meine Füße sind schwer wie Blei und ich bilde mir ein Furchen im Teppich zu hinterlassen. Dann stehe ich endlich dort neben meiner Frau und beginne zu weinen. Ich möchte sie umarmen, sie küssen und trösten. Doch dazu komme ich nicht mehr, denn meine zittrigen Beine geben nach und ich breche zusammen. Im Fallen greife ich noch nach der Jacke, in welcher ich die Augen meiner Frau sehe. Ich liege da, flach auf dem Bauch, ziehe die Jacke heran und schiebe sie mit letzter Kraft unter meinen schweren Kopf. Ich bemerke die Schwere in meinen Armen, den Beinen und den Druck welcher auf meinem warmen Rücken lastet. Es ist mir nicht möglich wieder aufzustehen, das bemerke ich obwohl ich es gar nicht versuchen möchte…