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Der verschwundene Sohn

… dann nehme ich die Stimme meines Sohnes war. Er scheint zu lachen, doch ich kann ihn nicht sehen. Ich steige vom Fensterbrett hinab und durchquere auf Zehenspitzen diesen kleinen Raum, in welchem es schier unmöglich scheint sich zu verstecken. Ich schaue unter die drei Schreibtische, werfe einen Blick in Küche, Bad und den angrenzenden Lagerraum. Nichts…

„Papa, Paaapaaaa…“, flüstert die Stimme meines Sohnes und kichert. Erschrocken drehe ich mich um und habe das Gefühl mein Kind gerade am Boden vor der Heizung vorbei kriechen zu sehen. Er ist zu schnell, denn schon ist er hinter dem Bürocontainer unter dem am Fensterbrett stehenden Schreibtisch verschwunden. Ich springe nach vorne, gehe in die Knie und ziehe den Rollcontainer nach vorne, doch keine Spur von meinem Jungen.

„Paaapaaa, hier Papa…“, vernehme ich nun die Stimme aus dem Lagerraum nebenan. Ich finde das Ganze nicht lustig, aus irgendeinem Grund jagt mir diese Situation Angst ein, irgendetwas stimmt hier nicht.

Im Lager sehe ich mich einem gigantischen Berg aus leeren Pappkartons gegenüber, welcher sich in den letzten Tagen dort angehäuft haben. Ich glaube zu spüren dass mein Sohn unter diesem Haufen Pappe gefangen zu sein scheint. Panisch greife ich nach den Kartons und werfe einen nach dem Anderen hinter mich um mein Kind zu befreien. Endlich hebe ich den letzten Karton auf und ich sehe nichts, keine Spur von meinem Sohn. Ich komme in diesem Moment nicht auf den Gedanken, dass ich mir das Ganze vielleicht nur einbilde, denn mein Sohn befindet sich zu diesem Zeitpunkt noch im Kindergarten.

Ich bekomme immer mehr Panik, wo zum Teufel ist mein Sohn? Ich renne nach vorne in den Hauptraum meines Büros und frage meine Praktikantin ob sie meinen Sohn aus der Tür hat kommen sehen. Sie verneint meine Frage und schaut mich ratlos an. Wieder höre ich die Stimme meines Sohnes und ich stürze zurück in den zweiten Büroraum. Ich suche weitere Minuten vergebens und komme schließlich zu der Erkenntnis, dass sich mein Gehör getäuscht hat und sich mein Sohn außerhalb des Büros befinden muss.

Ich erklimme also das Fensterbrett und steige darüber hinaus in den Hof, schaue mir dort jede Ecke genau an. Zu sehen bekomme ich allerdings nichts, selbst das hin und her rücken der Mülltonnen ist nicht von Erfolg gekrönt. Mein Junge bleibt verschwunden und somit wende ich mich fragend an den Medizinmann, welcher mittlerweile sein Flötenspiel beendet hat. Dieser schaut nach links in Richtung des Besens in Menschengestalt und nickt diesem zu. Der Besen hingegen zeigt nun mit einem Arm und mit seinen Augen nach oben, so als wolle er sagen: “Schaue in den anderen Etagen nach.“ Schlagartig ändert sich mein Bild der momentanen Situation, ich gerate in Panik und meine mich nun inmitten einer Entführung zu befinden. Irgendwelche Leute haben vor meinen Sohn zu entführen, mein Herz rast, mir läuft der Schweiß über den Rücken, den Nacken und meine Stirn. Meine Beine zittern, fühlen sich an wie aus Gummi, mein gesamter Körper vibriert und ich weiß nicht was ich zuerst tun soll.

Plötzlich höre ich eine Türe im Treppenhaus zuschlagen, gefolgt von mehreren Schritten welche die Treppe hinauf oder runter rennen, genau kann ich das nicht festlegen. Panisch überwinde ich die knapp anderthalb Meter Hauswand um zurück in mein Büro zu gelangen, denn mein Schlüsselbund befindet sich noch in meiner Jacke, welche über meinem Stuhl hängt. Nachdem ich mir meinen Schlüssel geschnappt habe eile ich durch die Bürotür und schließe die sich rechts davon befindliche Haustüre auf. Langsam öffne ich diese, husche hindurch und lasse sie langsam hinter mir ins Schloss fallen.

Ich traue mich kaum zu Luft zu holen, jeder Atemzug liegt mir laut in den Ohren. Ängstlich lausche ich hinein in den Treppenaufgang, schleiche auf Zehenspitzen den Stufen entgegen. Wieder höre ich meinen Sohn rufen, aber ich bin mir nicht sicher aus welcher Richtung seine Stimme kommt. Die ersten Stufen hinauf geschlichen, schaue ich von dort aus durch das Treppenhausfenster in den Hof. Von hier aus kann ich außerdem in die Geschäftsräume der Zeitarbeitsfirma schauen, sowie auch in den Sanitärbereich des leer stehenden Restaurants. Genauestens blicke ich durch diese Fenster, zuerst durch die der Zeitarbeitsfirma und dann denke ich die Geräusche eines Dreirades zu hören, welches über die Fliesen des Restaurants nebenan zu fahren scheint. Sowie ich meinen Blick dorthin wende, sehe ich gerade noch wie mein Sohn auf seinem Spielzeugauto an den Fenstern vorbei rollt um dann hinter den Gardinen und dann hinter der Wand zu verschwinden.

Entsetzt drehe mich um und starre auf die Tür, welche den oberen Zugang zum Restaurant bildet. Wie in Gottes Namen kommt mein Junge in diese zugesperrten Räume? Ich wende mich zur Eingangstür der anderen Firma und betätige deren Klingelknopf. Der jungen Dame welche mir öffnet, stelle ich folgende Frage: „Haben sie meinen Sohn gesehen? Ich suche meinen Sohn, er ist verschwunden!“

Sie verneint meine Frage und starrt mich verwundert sowie irritiert an. Ich bedanke mich und stürze die Treppenstufen weiter nach oben, denn soeben habe ich wieder sein rufen gehört. Diesmal kommt es von oben, also lausche ich an jedem Treppenabsatz an den sich dort befindlichen Wohnungstüren. Ich lege mein Ohr an die Türen und horche, während ich den Atem anhalte, um den Aufenthaltsort meines Jungen auszumachen. Letztendlich komme ich alsbald an meiner eigenen Wohnungstür an, welche die letzte im gesamten Haus ist. Auch in meiner Wohnung fehlt jede Spur von meinem Sohn und somit renne ich die Treppenstufen wieder hinunter.

Als ich mein Büro betrete fordere ich meine Praktikantin auf sich außerhalb der Büroräume zu positionieren und den Hauseingang nicht außer acht zu lassen. Während sie meinen Anweisungen folgt, stehe ich völlig verwirrt auf der Straße und schaue prüfend in alle Richtungen. Plötzlich fährt aus der Einfahrt des Nebenhauses ein Kombi über den Bürgersteig hinaus auf die Straße. Irgendwie scheint mir dieses Fahrzeug verdächtig und ich vermute die Entführer in diesem Fahrzeug. Schnell renne ich zu dem Fahrzeug und schaue in den Laderaum, doch außer dem erschrocken schauenden Fahrer ist nichts zu sehen.

Ich drehe mich wieder um und renne in Richtung Straßenkreuzung, schaue als ich dort angekommen bin in alle vier Himmelsrichtungen und suche jede Strecke genauestens ab. Mein Handy am Ohr, versuche ich meine Frau zu erreichen um ihr von dem Vorfall zu berichten, doch sie scheint ihr Telefon aufgrund unseres voran gegangenen Streites ausgeschaltet zu haben. Dann bemerke ich im Park neben der Kreuzung eine verdächtig aussehende Dame mit Kinderwagen. Sie schaut mich direkt an und als ich den Kinderwagen zu mustern beginne, denke ich meinen Sohn in diesem zu erkennen. Mein Herz beginnt wie wild zu schlagen, was um alles in der Welt läuft hier, ist dies eine Verschwörung?

Ich begebe mich in Richtung dieser Frau und diese scheint sich wohl ertappt zu fühlen, denn sie steht mit einem Male auf und will mit ihrem Kinderwagen den Park verlassen. Nun dann beginne ich zu rennen und als ich kurz hinter ihr bin, gehe ich normalen Schrittes weiter. Sowie ich ihr über die Schulter schaue, erkenne ich zu meiner Verwunderung nicht meinen Sohn in dem Kinderwagen sondern ein Mädchen. Die junge Frau schaut sich erschrocken zu mir um und ich mache auf dem Absatz kehrt um zurück zu meinem Büro zu laufen. In meinem Kopf überstürzen sich die Gedanken, ich habe absolut keine Ahnung was hier vor sich geht und welchen Dingen die ich sehe, ich Glauben schenken darf.

Vor dem Büro steht eine Zigarette rauchend meine Praktikantin und sie versichert mir, dass während meiner Abwesenheit niemand das Haus verlassen oder betreten hat. In meinen Geschäftsräumen wähle ich noch einmal alle möglichen Handynummern meiner Verlobten, doch jede dieser  Nummern ist nicht zu erreichen und ich bin immer mehr der Verzweiflung nahe. Anschließend suche ich noch einige Male das Treppenhaus sowie auch die Kellerräume und den Innenhof ab. Alles ohne Erfolg.

Nach dieser erfolglosen Suche bin ich am zweifeln ob ich mir hier vielleicht etwas eingebildet habe, aber sicher bin ich mir dieser Überlegung nicht. Also gehe ich auch erst einmal vor die Tür und rauche eine Zigarette. Mit dieser in der Hand gehe ich auf der Straße auf und ab, schaue noch einmal in die Straße gegenüber und dann in die angrenzende Straße wo wir täglich unser Auto parken. Genau in diesem Augenblick sehe ich meine Lebensgefährtin mit unserem Auto heran fahren und in einen Parkplatz abbiegen. Völlig erregt renne ich ihr entgegen, doch schlagartig stockt mir der Atem, denn sie steigt aus dem Auto aus, öffnet die hintere Türe und holt dort unseren Sohn heraus.

Es fällt mir schwer meinen Augen zu trauen und obwohl ich erleichtert bin dass es meinem Sohn gut geht, so denke ich doch dass ich tatsächlich verrückt bin, denn ich habe mir alles die ganze Zeit nur eingebildet. Als ich bei den Beiden ankomme sage ich zu meiner Frau: „Zum Glück geht es Ryan gut, wo wart ihr denn? Ich habe gedacht die haben Ryan entführt und habe ihn seit fast einer Stunde überall gesucht. Wieso hast du überhaupt kein Telefon dabei, ich habe dich einige Male versucht zu erreichen?“ „Ey Ronny du hast ne absolute Macke. Merkst du eigentlich was du da redest. Lass mich in Ruhe.“ (Sie formuliert diese Worte nicht aus Hass, sondern vielmehr aus reiner Verzweiflung und Sorge um mich. Sie weiß sich einfach nicht mehr anders zu helfen.) Mit diesen Worten lässt sie mich stehen um mit unserem Sohn auf dem Arm in Richtung Wohnung zu gehen.

Wütend über ihre Reaktion gehe ich zurück ins Büro, denn ich kann ihre Haltung einfach nicht verstehen. Versteht sie allen Ernstes meine Sorge nicht welche ich die letzte Stunde ausgestanden habe…?

…Stunden später, es ist am frühen Abend kurz vor Feierabend, sitze ich wieder hinten im Büro und versuche krampfhaft einige Artikel bei Ebay einzustellen. Dies gelingt mir nicht wirklich, denn immer wieder denke ich die Stimmen meiner Frau und meines Sohnes von oben aus der vierten Etage zu hören. Meine Frau scheint zu telefonieren und ich bilde mir ein, dass sie mit irgendeiner Freundin über mich und mein seltsames Verhalten spricht. Das nervt mich tierisch an, sie scheint einfach meine Angst nicht zu verstehen welche ich um unseren Jungen gehabt habe. Letztendlich entschließe ich mich dazu nach oben zu gehen um mit ihr über diesen Vorfall von heute Nachmittag zu sprechen. Wie nicht anders zu erwarten war endet diese Begegnung im Streit und ich verlasse noch wütender die gemeinsame Wohnung.

Aus der Wut heraus ziehe ich mir am Arbeitstisch noch eine weitere Line dieses Teufelszeuges in die Nase. Da ich noch immer die Stimme meiner Frau zu hören denke, schließe ich schließlich dass Fenster zum Hof. Draußen ist es mittlerweile dunkel und in mir kommen Erinnerungen an die vergangene Nacht wieder in den Sinn. Bei den Gedanken an das Durchlebte läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter und ich überlege ob und wenn ja was, in dieser Nacht der Realität entsprach. Sicher sein kann ich mir keiner Sache mehr, dass haben mir die letzten Stunden durchaus gezeigt…